Revision und Expert Litigation

Zur Kfz-Haftpflichtversicherung: Wer ist letztendlich Fahrzeugführer eines Autos?

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Der Hoge Raad hat am 5. Juli 2024 dem EuGH Fragen zur Auslegung des Begriffs „Fahrzeugführer“   in der Richtlinie des Europäischen Parlaments über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung vorgelegt. In diesem Fall führt unsere Kollegin, Rechtsanwältin mr. Marieke van der Keur, das Revisionsverfahren im Namen des Kfz-Versicherers.

HR 5 juli 2024, ECLI:NL:HR:2024:1022, Hoge Raad, 23/00813 (rechtspraak.nl)

Was ist passiert?

Während einer Fahrt mit Freunden in einem Kleintransporter zieht ein Beifahrer plötzlich die Handbremse. Der Wagen gerät unkontrolliert ins Schleudern und prallt gegen einen Pfeiler. Die Person am Steuer wird schwer verletzt. Sie fordert eine Entschädigung vom Kfz-Versicherer des Lieferwagens.

Das niederländische Gesetz & die Richtlinie des Europäischen Parlaments über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung

Gemäß Art. 4, Absatz 1 des WAM (Wet aansprakelijkheid motorrijtuigen, niederländisches Gesetz zur Kfz-Haftpflichtversicherung) muss der Versicherer nicht für den Schaden des „Fahrzeugführers“ des Kraftfahrzeugs, das den Unfall verursacht hat, aufkommen. Dieser Artikel ergibt sich aus der Kfz-Richtlinie, die diese eine Ausnahme von der obligatorischen Deckung bei der Kfz-Haftpflicht zulässt.

In diesem Fall geht es also darum, ob die Person am Steuer „die Fähigkeit zum Führen eines Fahrzeugs“ verloren hat, wenn der Beifahrer plötzlich die Handbremse betätigt und das Fahrzeug dadurch fahruntüchtig wird.

Urteil des Land- und Oberlandesgerichts

Das Landgericht ntschied zu Gunsten der Person am Steuer. Nach Anziehen der Handbremse konnte die Person am Steuer das Auto nicht mehr richtig lenken: sie konnte Richtung und   Geschwindigkeit nicht mehr bestimmen. Daher war die Person hinter dem Lenkrad in diesem Moment kein „Fahrzeugführer“ mehr. Nach Ansicht des Gerichts musste der Kfz-Versicherer daher Deckung gewähren.

Das Oberlandesgericht entschied anders. Nach Ansicht des Oberlandesgerichts wäre die Person, die hinter dem Steuer saß, immer der Fahrzeugführer geblieben: sie hätte den Fahrersitz eingenommen, den Wagen in Bewegung gesetzt und Geschwindigkeit und Fahrtrichtung bestimmt. Sie habe nicht aufgehört Fahrzeugführer zu sein, allein dadurch, dass eine andere Person durch Ziehen der Handbremse ebenfalls eine Fahrhandlung vorgenommen hätte.

Gegen dieses Urteil wurde Revision eingelegt.

Votum des Generalstaatsanwalts (A-G): „Acte-clair“

Der A-G hatte zuvor dem Hoge Raad empfohlen, das Urteil des Landgerichts aufzuheben. Nach Ansicht des A-G ist es klar, dass die Person hinter dem Lenkrad aufhört, „Fahrzeugführer“ zu sein, wenn sie aufgrund der Handlungen eines Beifahrers nicht mehr die „Kontrolle“ über das Auto ausüben kann.

Nach dem A-G ist es unerheblich, ob der Mitfahrer absichtlich das Lenkrad übernimmt oder der Person hinter dem Steuer versehentlich die Kontrolle entzieht. Man denke an einen Beifahrer, der dem Fahrzeugführer versehentlich mit einer Zeitung die Sicht auf die Straße nimmt, an einen Mitfahrer, der beim Öffnen einer Thermoskanne heißen Kaffee über die Person hinter dem Steuer  schüttet oder sie versehentlich mit dem Ellbogen anstößt, wodurch der Fahrzeugführer erschrickt und die Kontrolle über das Lenkrad verliert. Auch in diesen Fällen ist der Fahrzeugführer nicht mehr Fahrzeugführer.
Nach Ansicht des A-G handelt es sich um einen Acte-clair. Der A-G berücksichtigt, wie diese Frage zur Kfz-Haftpflichtversicherung in Belgien in der Zivilrechtsprechung entschieden wird. Dort ist man so lange Fahrzeugführer, wie man die „Herrschaft“, französisch „Maîtrise“, über das Auto hat. Verliert der Fahrzeugführer diese Maîtrise zu irgendeinem Zeitpunkt durch einen Beifahrer, ist er nicht mehr der Fahrzeugführer.

 Urteil des Hoge Raad 

Der Hoge Raad sieht den Fall anders als der A-G. Nach Ansicht des Hoge Raad ist nicht deutlich, wann ein Fahrzeugführer aufhört, Fahrzeugführer zu sein.

Der Hoge Raad ist der Ansicht, dass der Begriff „Fahrzeugführer“ gemäß WAM im Einklang mit den europäischen Vorschriften über die Kfz-Haftpflichtversicherung ausgelegt werden sollte. Der EuGH hat in mehreren Urteilen zu diesen Vorschriften auf die Bedeutung des Schutzes von Fahrzeuginsassen hingewiesen. Es stellt sich die Frage, ob Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie über die Kfz-Haftpflichtversicherung 2009/103 so auszulegen ist, dass die Kfz-Haftpflichtversicherung die Haftung für Schäden des (ursprünglichen) Fahrzeugführers decken muss, wenn ein Mitfahrer in die Lenkung des Kraftfahrzeugs eingreift und es infolgedessen zu einem Unfall kommt.

Eine zweite Frage ist, ob noch weitere Umstände für die Frage relevant sind, ob eine Person die Eigenschaft als Fahrzeugführer verloren hat, so dass sie als Beifahrer Versicherungsschutz nach der Kfz-Haftpflichtversicherung beanspruchen kann. Es ist zu prüfen, ob der Mitfahrer absichtlich in die Lenkung eingegriffen hat oder nicht.

Der Hoge Raad hat diese Fragen dem EU-Gerichtshof vorgelegt.

Fortsetzung

Der Hoge Raad wartet zunächst die Antworten des Europäischen Gerichtshofs auf seine Fragen ab. Danach wird der Hoge Raad unter Berücksichtigung dieser Antworten sein endgültiges Urteil fällen.

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